Ausgefallene Verbindungen – ambivalente Erlebnisse beim Zugfahren im Sommer 2022  (feat A.N.)
 

Es muss ja nicht gleich die Transsibirische Eisenbahn oder der Orient-Express sein, in der Ben Kingsley als Inspektor Grinko einen Drogendeal zu vertuschen oder in dem Hercule Poirot ein Mordkomplott aufzuklären hat.

Auch in einem urban gänzlich erschlossenen Land wie Deutschland lassen sich vom aufmerksamen Betrachter in den ICEs und Regionalzügen der Bahn auf den Verbindungen zwischen den Groß- und Kleinstädten der Republik wunderbare und bizarr anmutende Situationen beobachten, die menschlichen Verbindungen also.

Es ist nicht nötig, sich über Vorteile und Nachteile des 9-€-Tickets auszulassen, die Behäbigkeit der Bahn oder die Qualität der Infrastruktur und des Kaffees zu thematisieren. Das ist langweilig und wurde zur Genüge getan. Anregender beim Bahnfahren – dieser Mischung aus Nostalgie, Moderne und ein bisschen Abenteuer – sind die kleinen alltäglichen Geschehnisse bei dieser Art des Reisens. Und es ist ebenfalls nicht erforderlich, Klischees oder Kategorien zu bemühen, um all die Menschen zu beschreiben, die einem begegnen.

Ja, es gibt sie, die Backpacker-Pärchen mit Mountainbike und Riesen-Rucksack, denen ein Platz auf dem Boden genügt; die gestresste fünfköpfige Familie, bei der die erziehungsberechtigte Organisations-chefin versucht, den Anschein von Ordnung und Struktur vor den anderen Fahrgästen aufrechtzuerhalten.
Auch den jugendlichen Vieltelefonierer, dessen einziger sensorischer Kontakt zur Außenwelt sein Smartphone ist und den gestressten Manager mit Aktentasche, Laptop und vielen albernen Anglizismen trifft man an. Genauso wie die einsame Omi mit ihren 12 Rascheltüten voller Verpflegung, die sie zur inneren Beruhigung alle 20 Minuten in einer Art Übersprungshandlung durchsuchen muss. Kaum überraschend, dass in einer der Tüten ein feuchter Waschlappen wohnt, der nach 5-stündigem Aufenthalt riecht wie eine Mischung aus nassem Hund und den Küchenabfällen des Bordbistros.

Aber ebenso sieht man eine souveräne junge Mutter, die sanft in Russisch oder Ukrainisch mit ihren Kindern spricht und dabei aus wunderschönen Augen über den Rand ihrer FFP2-Maske die Umgebung taxiert. Den Alibi-Maskenträger, der seine Gesichtsbedeckung von unter der Nase oder gar der Unterlippe befindlich nur dann korrigierend über die Nase zupft, wenn eine Bahnbedienstete das Abteil durchquert. Dem unduldsamen Blick eines strengen Fahrgastes konnte er keine zwei Sekunden standhalten mit seiner infantilen Rebellenattitüde. Andere sind cleverer, sie setzen sich ins Bordrestaurant und nippen drei Stunden lang an zwei Bieren.

Zur Slapstick-Einlage wird die Sache mit der bockigen Glastür des Großraumabteils. Es braucht nur drei oder vier Zugestiegene, um – nun doch Hercule-Poirot-gleich – zu erkennen, dass der Öffnungssensor der Tür nicht korrekt arbeitet. Routinierte Bahnfahrende heben dann in einem leichten Bogen die Hand über den Kopf und öffnen so das störrische Transparent-Portal zum klimatisierten Abteil wie von Zauberhand. Weniger Erfahrene rütteln und zerren panisch-wütend an dem Glaselement. Dann bekommen sie aus dem Innenraum als stumme Hilfeleistung eben jenes Handzeichen, das einem Winken gleicht. Und ihr Blick sagt, dass sie es auch genauso wahrnehmen – als Winken. "Was will die von mir? Ich kenn' die doch gar nicht! Diese Scheißtür geht nicht auf, verdammt noch mal! Oder soll ich etwa umkehren, weil hier die elitäre Loge der 1. Klasse tagt? Die spinnen ja wohl..."

Aha, nach mehreren vergeblichen Versuchen führt die pantomimische Lektion endlich zum Erfolg und die Tür öffnet sich. Der ganze in diesen wenigen Sekunden angestaute Groll verfliegt ebenso durch diese sprichwörtliche Zauberhand. Ein kapitulierendes Lächeln folgt als Dank an die helfende Person und bekundet zugleich ungewollt die Erkenntnis der eigenen Unzulänglichkeit in puncto Fernreisen mit öffentlichen Verkehrsmitteln.

Filmreif zeigt sich auch die Verabschiedungsszene auf einem großen Bahnhof in Süddeutschland. Die Eltern bringen ihren offensichtlich erwachsenen, wenn auch noch recht jungen Sohn zum und in den Zug. Vati verabschiedet sich kurz und bündig vom Sprössling, geht unter dem Vorwand, der Zug würde gleich abfahren, auf den Bahnsteig und bleibt vor dem Fenster stehen. Während die Mutter auf den jungen Mann einredet, lunzt Papa nach rechts und links, wo wohl der Raucherbereich sein könnte und schaut auf die Uhr deutend ins Abteil. Wahrscheinlich treibt ihn die Panik, sein neuer VW Passat könnte abgeschleppt werden, weil der Parkschein gleich abläuft. Seiner Frau signalisiert das aber eben jene väterlich-kühle Art von Sorge um den Sohn und dessen längst überfälliger Abnabelung von Mutti. Sie redet weiter leise und besänftigend auf den Filius ein, bis in einem einzigen Satz ihr gesamtes pädagogisches Versagen der letzten 20 Jahre kumuliert. "Junge, melde dich, wenn etwas ist."
Genau das sollte er eben nicht tun! Er könnte sich auch selbst zu helfen wissen. Mal Kopf, Mund und das Handy sinnvoll nutzen, aber nicht immer Mama und Papa anrufen, wenn mal was ist.

Manchmal wird auch der als stiller Ohrenzeuge anwesende Autor zum unfreiwilligen Protagonisten, wie im Fall des Pärchens mittleren Alters aus den neuen Bundesländern, dem im Regionalexpress auf Nachfrage die Nennung meines Reiseziels genügt, um mich als vermeintlichen Landsmann zu identifizieren. Alsbald erfahre ich, dass der Sohn in der Schweiz lebt, sie ihn jedes Jahr besuchen und dabei schon verschiedene Verkehrsmittel wie Auto und Flugzeug genutzt hätten. Diesmal eben die Eisenbahn, dergestalt, dass es drei verschiedene ICEs und eben jenes Regio-Expresses bedurfte. Kurz kam mir in den Sinn, zu fragen, ob eine dieser Kreuzfahrten mit "Hurtigruten" als weitere Reiseoption in Frage käme.
Der kubikmetergroße Gemeinschaftskoffer wird nach einhelliger ehelicher Einschätzung und als rechtfertigende Abstrafung des Dings zum Fehlkauf deklassiert, weil er ja den ganzen Gang versperre. Und überhaupt könne das nächste Mal ja auch der Sohn zu "uns" kommen, der fahre schließlich einen RS6. Wie der Koffer, so des Sohnes Auto... Beides weiß man vorher.

Der etwas zu laute Telefonierer ist in einem günstigen Augenblick schnell zu Raison gebracht. Dabei will er seiner anrufenden Mutter nur zum wiederholten Male mitteilen, wann er wo ankommen würde. Aber die Verbindung wird immer schlechter. Er ruft ins Telefon: "Mama, hörst du mich? Ich verstehe dich nur sehr schlecht!" Die prompte Antwort aus einer der nahen Sitzreihen "Also wir hören Sie ausgezeichnet", sorgt nicht nur für Gelächter im Umkreis, sondern auch für ein zeitnahes Ende des Telefonates.

Als Zugbegleiter braucht man besonders gute Nerven, wenn man 45 Minuten lang den einen Fahrgast sucht, dessen Fahrrad fast quer im Gang steht. Nach mehrfachen Durchsagen über die interne Sprechanlage und Befragung einzelner Passagiere kann endlich der Besitzer ausfindig gemacht werden, der natürlich frei jeden Schuldbewusstseins und leicht mürrisch sein Mountainbike fluchtwegkonform zurechtrückt. Der Mann von der Bahn darf das offenbar nicht. Ebenso wenig wie das Objekt einfach als Altmetall zu deklarieren und auf den nächsten Bahnsteig zu stellen.

Und manchmal gibt es auch einfach nur eine nette Person, mit der man sich stundenlang ein Sechser-Abteil teilt, sich ohne Zwang gelegentlich unterhält, sich hilft oder schläft - und alles mit gleichbleibender Freundlichkeit. Man verabschiedet sich mit einem charmanten Tschüssi plus Lächeln und denkt: Warum könnte es nicht immer so sein?