Ich hatte mehrere Freunde über zwei Messenger-Dienste um Hilfe gebeten. Ich sei in einer Notlage und sie sollten bitte die GSG9 zu meiner Befreiung schicken. Aber sie haben nur gelacht.
Auch die Erwähnung meiner Geiselnehmer änderte nichts daran. Es waren ein Borg, ein Rossi und ein speckig grienender Mann mit leicht gewelltem Deckhaar.
Der Borg war aber nicht eines dieser technologischen Cyborg-Wesen aus Star Trek, die alles Fremde assimilieren. Es war der Borg Andy, der Schlagersänger.
Obwohl gewisse Parallelen vorhanden waren, aber dazu später mehr. Folglich war der Rossi auch nicht der talentierte Motorrad-Rennfahrer namens Valentino, sondern eben der Schlagerbarde Semino.
Und jenes Grinsekeks entpuppte sich als Stefan Mross, wobei mir auch hier wieder ein Rennfahrer ähnlichen Namens lieber gewesen wäre – Stirling Moss. Aber der ist schon tot.
Traurig genug, dass ich diese zuerst genannten Gestalten überhaupt kenne.
Der Borg hielt sich nicht lange mit Floskeln auf und machte um seine Gnadenlosigkeit kein Aufheben,
als er sagte, “…spätestens, wenn sie um 11 auf die Uhr schauen und der Borg immer noch in ihrem Fernseher umeinanderhupft, dann werden Sie sagen, das war aber ein ganz besonderer (Schlager-) Spaß.“
Abgerundet wurde das Ganze durch einen blonden Jungspund als Elvis-Imitator und ein als Geschwister angekündigtes Paar namens Hofmann.
Hier hatte ich kurz die Hoffnung, es würde sich bei einer Hälfte davon um den Opernsänger Peter Hofmann handeln.
Irrtum, es waren die Schwestern Anita und Alexandra, Schlagerinterpretinnen der mittleren Jahrgänge. Die muss man aber auch nicht kennen.
Der singende sehr junge Mann hingegen tat mir nur leid, denn irgendwann vor nicht allzu langer Zeit muss er im Kinderwagen liegend von seinen
Eltern bei einem Volksfest zu lange neben den Lautsprecherboxen abgestellt worden sein.
Oder er ist im bergigen Süddeutschland mal schwer mit dem Kopf irgendwo angeschlagen. Ist denn kein Arzt anwesend?
Der Andy kommentierte irgendetwas kurz darauf mit den Worten: “Wir werden heute noch einige solcher Szenen sehen.“
Das war keine leere Drohung, oder? Ich bekam es wirklich mit der Angst zu tun.
Nun ertrug ich also kopfschüttelnd und angewidert diese von meinem Vater als abendfülle Unterhaltung ausgewählte Sendung.
Man könne ja dabei schwatzen, anders als bei einem Spielfilm, meinte er.
Andy, der quadratische Moderations-Cyborg im viel zu kleinen Anzug, kramte aus der Bühnendekoration von nun an immer wieder
Wunschpostbriefe hervor und trug diese noch schlechter pointiert vor, als es der ostdeutsche Schlagergesangsansager Achim Menzel
zu Lebzeiten je getan hatte: „Dieser Brief ist sogar langsam geschrieben, den kann ich gut lesen.“
Wir kamen also in den Genuss des alten Roy Black-Hits „Schön ist es, auf der Welt zu sein“, gesungen von dessen früherer Duettpartnerin Anita
und der Universalwaffe Andy Borg. Als dann auch noch der Mross ins Rampenlicht trat und zum Mikro griff, konnte ich nicht anders,
als den Rat einer Freundin zu befolgen und Alkohol zu trinken. Eine gute Entscheidung, wie sich alsbald herausstellte.
Mein Vater kommentierte den einstigen Trompetenfritzen nur abfällig mit „Ach, der Heini“.
Der genaue Grund dieser persönlichen Sympathiedifferenzierung erschloss sich mir nicht.
Aber zu diesem Zeitpunkt war mein Gehirn auch schon dem Zustand von halbflüssigem Wackelpudding sehr nahe.
Ursache dafür waren die vorangegangenen Darbietungen eines Rex Gildo-Hit-Medleys,
der italienischen Schmachtschmonzetten á la „Jenseits von Eden“ (Mross) und Gianna Nanninis „Un’ estate Italiana“.
Im Gegensatz zum Semino, der mit dem Bike-Racer Valentino weder verwandt noch verschwägert ist, war der Bruder von Gianna tatsächlich mal Rennfahrer.
Aber weder er noch sie waren in der Sendung und der Andy fuhr den Karren auch ohne fremde Hilfe vor die Wand.
Die beiden Hofmanns gerierten sich derweil als Mischung zwischen südländischem Leidenschaftsgetue und nordischem Halb-Abba-Verschnitt Agneta und Anni-Fried,
also ohne die Herren. Die eine blond, die andere brünett. Was hier gesanglich fehlte, wurde einfach schwülstig-theatralisch pantomimisch dargereicht.
Zwischendurch wieder ein Schenkelklopfer vom Unterhaltungsborg:
„Meine Damen un’ Herren, sie sehen das Fass hier… das, wo das Telefon drauf steht, meine ich jetzt. Das, was sich bewegt, das bin ich.“
Es folgte noch ein Peter Alexander-Medley, dann kam der Endgegner – personell und musikalisch.
Ein Terzett aus Rossi, Mross und Borg mit „Rot, rot, rot, rot sind die Rosen.“
Man hätte mehrere Eimer füllen können mit dem Schmalz, der aus dem Fernseher triefte.
Nach gut zweieinhalb Stunden war ich erlöst.
Papa ging ins Bett und ich empfand es fast als Belohnung, nun das Finale von „The Masked Singer“ gucken zu dürfen.
Wenn man das als Wohltat wahrnimmt, können Sie sich die vorherigen Qualen vorstellen.
Noch nie hab ich mich so über den Anblick von Alexander Klaws gefreut.
Dennoch: ich werde morgen eine Petition starten, in der diese und ähnliche Sendungen auf eine internationale Liste
verbotener Foltermethoden und Kriegswaffen gesetzt werden.
Die GSG9 wird dann automatisch von Amnesty International oder dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Marsch gesetzt.
Ich sehe den Borg-Andy schon vor meinem inneren Auge rufen „Widerstand ist zwecklos“. Aber mich habt ihr nicht bekommen! Ich hab das überlebt.
Hoffentlich ohne Spätfolgen.
„Cheri Cheri Lady…“
P.S. Hintergrund der Sendung war eine Spendenaktion für Kinderhilfsprojekte. Daran ist nichts zu kritisieren.
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