mysteriöse Kurzgeschichte

- Ein Leben -
 

Tag 1
Das Erste was der Mann wahrnahm als er die Augen öffnete, war die absolute Dunkelheit um ihn herum. Er nahm diesen Umstand ohne Beunruhigung zur Kenntnis. Die Informationsflut in seinem Kopf war zu groß, als das er sich damit hätte befassen können. Nach kurzer Zeit stellte er sich die Frage, wer bin ich? Er wusste es nicht. Es gab nicht einen Anhaltspunkt über seine Person und Vergangenheit. Er suchte. Er hatte keine Erinnerungen, keine Eindrücke, keine Gesichter, keine Bilder. Da war nichts - nur grausame Leere. Er empfand keine Angst. Für ihn vergingen unzählbare Stunden. Nach einiger Zeit fiel ihm das Offensichtliche wie Schuppen von den Augen. Es war die erste grundlegende Information, die er selbst gefunden hatte, die Bestand hatte - jetzt in dieser Situation, in der er sich mangels Erinnerungen auf nichts anderes zu konzentrieren brauchte: Er erkannte, dass er komplexe Zusammenhänge verstehen konnte. Er konnte analytische Prozesse ausführen. Das sollte der Grundstein allen weiteren Handelns und vor allem Denkens sein. Er konnte Sachverhalte gedanklich untersuchen, kausale Zusammenhänge erkennen, logische Schlussfolgerungen ziehen. Er konnte zu Ergebnissen kommen. Ihm waren grundlegende Dinge bekannt und andere blieben völlig im Dunkel. Mit Hilfe dieser Fähigkeit, so stellte er fest, sollte es ihm möglich sein, sich zu ergründen. Seine Umwelt spielte dabei eine untergeordnete Rolle. Zu erst musste er herausfinden, wie er dachte und wozu sein Geist fähig war. Ihm wurde klar, dass er Begriffe wie Existenz, Denken, Kultur, Religion, Menschheit und Intelligenz sowie Erkenntnis zuordnen konnte. Informationen zu seiner Person hatte er jedoch keine. Er versuchte zu ordnen. Wenn er all diese Begriffe bereits kannte, muss es sie auch geben. Das war die Basis. Muss es diese Dinge wirklich geben, nur weil er sie kannte? Sollte er sich die Existenz dieser Dinge nur einbilden, brach sein gesamtes Gerüst zusammen. Dieser Gedanke erschreckte ihn. Ohne die wenigen grundlegenden Begriffe hatte er keinen Anhaltspunkt für weitere Überlegungen, keine Insel, auf die er zurückkehren kann, wenn seine Gedanken in falsche Richtungen gehen sollten. Er versuchte diese Richtung der Überlegung zu verdrängen. Seine Versuche der Erkenntnis waren Beweis genug, dass er existieren musste. Und wenn er existiert und von diesen Dingen weiß, müssen auch diese Dinge existieren. "Wäre das ansonsten eine gedankliche Kausalitätsschleife?", dachte er. "Wenn ich nur von diesen Dingen "träume" und es sie gar nicht gibt, ich mir aber einrede, dass es sie gibt, ist mein Geist doch nicht analytisch und arbeitet nicht logisch. Ich gaukle mir also selbst etwas vor und kann das nicht mal erkennen, weil ich nur diese Illusion und nichts anderes kenne. Aber ich würde doch die Illusion erkennen müssen, schon aufgrund der Logik... NEIN! STOP! Ich mag diese philosophischen Verschlingungen, aber wenn es mich kontrolliert, wird´s unangenehm."  So drehte er sich weiter im Kreis und verlor dabei wieder das Zeitgefühl. Aber er erkannte einen neuen, ihm geläufigen Begriff, der Beweis der Existenz einer realen Umwelt war: Die Zeit.

Tag 2
Diesmal war es hell. Also gab es hier eine Sonne oder eine künstliche Lichtquelle. Der Vorgang der Kenntnisnahme dieses eigentlich selbstverständlichen Wissens wiederholte sich abermals und erfüllte ihn mit einer Form der Zufriedenheit. Und es sollte nicht das letzte mal bleiben. Sprache, Emotionen... weitere Fakten, die ihm wie kleine Wunder erschienen. Er betrachtete seine Sachen. Eine Art Uniform. Er fand einen Namen... "Namen, aha. Hab ich auch einen Namen? Ist das mein Name oder gehört mir dieser Anzug nicht? Ich kann den Namen aber lesen! DAYER." Der Raum war karg eingerichtet. Er lag auf einer Liege. Es gab ein Fenster, aber man sah nur einen Himmel. "Also gibt es auch Planeten. Es gibt Materie, es gibt Energie. Ich bin auch Materie und Energie". Er stellte sich die Frage, warum er hier war, wie lange schon und wo er überhaupt war. Er fühlte sich nicht wie in einem Gefängnis. Gefängnisse setzen eine Handlung voraus, die dem Wohl der Allgemeinheit, der Menschheit oder dem Wohl eines Individuums Schaden zugefügt haben. Und das konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen. Wieder erschien die Frage, in welche Zeit er lebte. Der Raum gab darüber keinen Aufschluss. Aber da er als Mensch ja noch weitere Bedürfnisse hatte, musste er früher oder später anderen Menschen begegnen. War er vielleicht ein geistig Verwirrter, ein Irrer in einer Anstalt? Immer wieder blitzen Gedanken an eine Vergangenheit, an ein Leben, auf, dass ihm vertraut vorkam. Aber er konnte diese Erinnerungsblitze nicht deutlich genug erkennen, um sie zuzuordnen. Die volle Funktionsfähigkeit seiner Sinnesorgane hatte er bereits gestern feststellen können. Das Organ, das er im Moment am meisten brauchte und auf das er im Allgemeinen den größten Wert legte, wollte nicht so recht funktionieren. Sein Gehirn. "Doch, es funktioniert. Es macht nur nicht das, was ich möchte. Welches Ich möchte denn eine bestimmte Funktionsweise des Gehirns erzeugen?", dachte er. "Ich brauche doch mehr Informationen über das Warum und Wie." Die Idee, allein mit Hilfe des Geistes zu Ergebnissen zu kommen, erwies sich als Trugschluss.
Ein Fach in der Wand öffnete sich. Der Mann erschrak. Er stand auf und sah in das kleine Fach. Darin lag etwas schwarzes kleines Rundes. Eine Tablette. Er nahm sie vorsichtig heraus und das Fach schloss sich umgehend wieder. Nur bei genauestem Hinsehen konnten die kleinen Spalten um das Fach herum erkannt werden. Das war auch der Grund, warum er es nicht früher bemerkt hatte. Er untersuchte auch die anderen Wände nach derartigen Spalten oder Fächern. Er fand nichts. "Welchen Zweck soll diese Tablette haben? Bin ich doch ein Kranker? Ist das ein Medikament? Eine Droge? Oder soll ich mit der Pille sterben? Ein Tötungsversuch oder das Angebot eines Suizides? Nein. Das hätte man vor meinem Erwachen bewerkstelligen können. Der Mann beschloss nach kurzem Zögern, die Tablette trotz unbekannter Folgen einzunehmen...

Tag 3 und 4
Am 3. Tag wiederholte sich das Ereignis mit der Tablette. Funktion und Rhythmus waren also klar. Offensichtlich war es seine Nahrung oder gewährleistete zumindest die Aufrechterhaltung seiner normalen Körperfunktionen. Das Misstrauen verschwand. Er horchte wieder in sich hinein. Er hatte das Gefühl, Wissen aus zwei Epochen der Geschichte in sich zu haben. Aber belegen konnte er diesen Verdacht nicht. Es gab keine handfeste Information an ein Ereignis. Er spürte auf einer Seite eine unbegründete Sehnsucht nach Klarheit. Anderseits war er sehr froh, wenigstens durch die Fähigkeit Überlegungen anstellen zu können, Klarheit finden zu können. Aber immer wieder kam die Frage, nach welcher Klarheit er eigentlich suchte. Er suchte nach einem Wissen, das ihm Aufschluss über seine Herkunft geben könnte. Er wusste Zusammenhänge der Natur, Eigenschaften und spezielle Merkmale seines Körpers. Er wusste etwas über Wissenschaften und über andere Menschen. Aber er fand nicht ein Bild in seinem Kopf. "Wer waren meine Eltern, habe ich Kinder, hab ich eine Frau? Denken andere Menschen auch so wie ich? " So kam er nicht weiter. Er versuchte zu schlafen, und stellte dabei fest, wieder ein Bedürfnis, ein Fakt seiner Person entdeckt zu haben. Schlaf. Die Gedanken schienen ihn im Schlaf weiterzuquälen und ließen ihn aufwachen. Als ob eine Maschine auch in seiner Abwesenheit weiterläuft. "Wird man mich vermissen? Oder wissen bestimmte Personen aus meinem Umfeld, dass ich hier bin? Wer gehört zu meinem Umfeld?"

Wieder quälten ihn unzählige Fragen, die er ohne Informationen nicht beantworten konnte. Der Mann grübelte, kramte in seinem Kopf nach Erinnerungen, Eindrücken, Personen, Gesprächen, Anhaltspunkten. Stundenlang. Ein zufriedenstellendes Ergebnis brachte es nicht. Der Versuch sich selbst einzuschätzen, seine Gewohnheiten, seine Vorlieben, blieb kläglich. Er glaubte, früher nie einen großen Drang nach Gesellschaft gehabt zu haben. Er war kein einsamer Mensch, aber er legte auch keinen allzu großen Wert auf Kontakte zu anderen Menschen. Vermutlich kam er deshalb mit dieser Situation im Laufe der Zeit besser klar, als er anfänglich glaubte. Er nahm an, dass ihm derartige Kontakte nie schwer gefallen waren, aber das sie ihm auch nicht viel bedeuteten. In seltenen Augenblicken spürte er jedoch eine Art Sehnsucht nach jemandem. Auch hier ließ sich kein Gesicht zuordnen. Es erfüllte ihn mit Schmerz und tiefstem Bedauern, dass er eine oder mehrere Personen lieben könnte und sich einfach nicht mehr daran erinnerte.

Die nächsten Tage
Abermals "fühlte" er diese zwei Epochen der Zeit in sich. Die eine schien durch materielle Dinge bestimmt zu sein. In ihr regierten Gewalt, Gier und Chaos, Gleichgültigkeit und Missverständnis, das zu noch mehr Gewalt und Gier führten. Die erfühlte Imagination dieser Welt war durchsetzt von grotesken Gegensätzen, in denen das Individuum Mensch nur eine untergeordnete Rolle spielte. Die Technologie dieser Zeit beherrschte die Ideologie. Die Menschheit vollbrachte Dinge, die sich fast ausschließlich auf konkrete materielle Bedürfnisse bezog. Es gab nur diese Welt mit ihren kleinen und großen Problemen. Sie wirkte in jeder Hinsicht isoliert. Die andere Zeit war anders. In ihr schien ein grundsätzlicher geistiger Konsens zu herrschen. Hier war Platz für neue Ideen, für freie Gedanken und es gab die Bereitschaft und den Willen zum Verstehen. Diese Epoche war nicht mehr isoliert. Und sie "existierte" nach der ersten Epoche. Der Mensch war hier als Einzelnes und in seiner Gesamtheit gewachsen. Nein, es war nicht das Paradies, aber der Wunsch nach kooperativer Koexistenz war beherrschend, wenn auch noch nicht vollständig erreicht. Es zählte der Versuch. Es gab auch hier Technologie, sogar eine deutlich höher entwickelte. Aber sie war der hochentwickelten Spezies Mensch mehr stummer Diener, als nur Diktator ihres Seins. "Ich träume, ich spreche und ich denke definitiv wie ein Mensch. Aber welche dieser Epochen stellt meine Heimat dar? Wie habe ich dort gelebt? Beide Zeitabschnitte können nicht gleichzeitig existiert haben. In eine muss ich doch gehören, in der anderen war ich nur Gast und Zuschauer."

Weitere Tage
"Welche Kraft lässt mich leben? Welche Macht verhindert, dass ich eines Tages einfach nicht mehr aufwache?" Wieder keimte diese Problematik in seinem Kopf. Andere hätten es als Frage nach dem Sein oder dem großen Warum genannt nach dem Sinn des Lebens. Aber es gab keine höhere Macht, keinen Glauben an irgendetwas, keinen Gott. Keine lenkende Hand und auch kein Schicksal. Die einzige Kraft, auf die er vertrauen konnte, war seine eigene. "War das nicht schon immer so? Habe ich nicht schon immer in einer speziellen Form nur an mich selbst geglaubt?" Ja, am besten zu nutzen waren doch die eigenen Fähigkeiten, sofern man diese real beurteilt. Und wenn nicht, lernt man es schnell. Durch Erfahrungen. All sein erlerntes Wissen und alle angeeigneten Fähigkeiten waren hier völlig umsonst. Außer das Denken. Nein, es war gewiss keine Bestimmung, hier zu sein. Es hatte keine Bedeutung... 

Der letzte Tag
"Seit ich damals aufgewacht bin, habe ich diesen Raum nicht verlassen. Ich habe mit niemandem gesprochen und nichts anderes gesehen, als dieses Raum und ein winziges Stück Himmel.", dachte er. Und im selben Moment bedauerte er nicht diese Tatsache, nein, er bedauerte die Verwendung des Wortes damals. So wie er fast jede Verwendung eines zeitlich bezogenen Wortes in seinem Gedanken bedauerte. "Ich habe die Tage gezählt, aber irgendwann habe ich mich gefragt, warum ich das tue. Von diesem Tag an vergaß ich genau mitzuzählen. Irgendwann habe es ich wieder aufgegeben und jede spätere Schätzung der verstrichenen Zeit verdammt. Es ist so bedeutungslos." Der Mensch ist sehr in zeitliche Begriffe eingebunden. In seiner Situation war das wenig hilfreich, erkannte der Mann. Somit versuchte er, auch jeden chronologischen Bezug aus seiner Sprache, aus seinem Denken zu verbannen. Aber es funktionierte nicht, denn im Normalfall hat jede Existenz einen Bezug zur Zeit. Nur eben diese, seine Existenz nicht. Die Erlangung zweier unumstößlicher Erkenntnisse war ihm gelungen. Er betrachtete beide inzwischen längst als selbstverständlich. Einerseits die reale Existenz seiner Selbst, andererseits die Existenz der Zeit. Das waren phänomenale Entdeckungen allein mit Hilfe seines Geistes. Und beide waren gegenseitiger Beweis. Ohne die Tatsache seiner Existenz hätte er nie die Zeit "finden" können. Und ohne den Begriff Zeit hätte er seine Existenz nie ergründen können. Letztendlich bewies schon diese Fähigkeit die eigene Existenz. Trotzdem hatte die Zeit für ihn an Bedeutung verloren. Er hatte einen Schatz gefunden, der nutzlos war. Es spielte einfach nichts mehr eine Rolle. Schlussendlich blieb ihm nur die absolute Gewissheit, ein denkender Mensch zu sein. Dieses Vermögen hatte sich ununterbrochen manifestiert, ob es ihm recht war oder nicht. Der Mann legte sich nieder und schlief für immer ein. Sein letzter Gedanke war: "Ich lebe".